Positives Denken versus mieser Stimmung. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem positiven Denken.
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Vor kurzem bin ihm Rahmen einer Fortbildung im Palliativbereich auf das Buch „Miese Stimmung, eine Streitschrift gegen positives Denken“ von Arnold Retzer aufmerksam gemacht worden (2012, Fischer-Verlag). Beim googeln über den Autor und dieses Buch habe ich die Aufzeichnung eines Vortrages von Arnold Retzer bei der AK Vorarlberg gefunden und kann diesen empfehlen: https://www.youtube.com/watch?v=jdm4o7-WJOU
Über das Buch habe ich folgende Beschreibung gefunden: „Wir alle stehen unter dem Diktat des positiven Denkens. Noch nie konnten wir angeblich so einfach unser Glück finden, wir müssen es nur wollen, es liegt in unserer Hand! Selbstoptimierung ist Pflicht. Die Konsequenz: Depression und Burn-out! Der renommierte Arzt und Psychologe Arnold Retzer zeigt uns einen Weg aus dieser Falle. Er setzt gefährliche Mythen außer Kraft, beendet falsche Hoffnungen und erklärt den Sinn von Angst und Zweifel.
Er zeigt, was man aus schlechter Stimmung machen kann und macht so den Weg frei für eine realistischen Selbsteinschätzung und Authentizität.
Ein provokantes und ungemein befreiendes Buch.“ ..sagen die Kritiker.
Das Thema hat mich an eine Fortbildung zum Mental-Coaching erinnert, bei der ich in Vorträgen und Lehrbüchern mit der Annahme einer Allheilswirkung des positiven Denkens konfrontiert wurde und mir eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Thema abgegangen ist. So habe ich mich damals selbst auf die Suche begeben und bin auf erstaunliche Gegenbewegungen gestoßen!
Nachfolgend ein kurzer Abriss, damit Sie sich selbst zu der geäußerten Kritik der Autoren ein eigenes Bild machen zu können:
Positiv denken macht krank?
Katrin Wilkens berichtet in einem Artikel „Positiv denken macht krank“: „Mehrere Milliarden Euro geben Deutsche pro Jahr für „mentale Fitness“ aus, dazu gehören neben klassischen Seminaren auch Bücher, Videos, Wochenendkurse, Einzelcoachings und Vorträge.“ Zwar wachse der Motivationsmarkt kontinuierlich weiter, aber Katrin Wilkens erklärt, dass die Anzahl der Motivations-Trainer dramatisch abgenommen habe mangels Glaubwürdigkeit. Der neue Trend ginge in Richtung Weiterbildung zum Thema Nachhaltigkeit und Fehler- und Konfliktmanagement. Auch der Bedarf an „Positiv denken? Nein, danke!“-Nachfragen steige.
Wie kommt es dazu? Schon vor einigen Jahren stellte der Psychologe Günter Scheich in seinem Buch fest: „Positiv Denken macht krank“ (Positives Denken macht krank, Günter Schleich 1997 Eichbornverlag, Auflage 2001). Er ist der Meinung: „Negiert man nämlich all die negativen Gedanken, die in einem sind, löst das Identitätskrisen aus und das Realitätsempfingen geht kaputt. Folge: die Frustrationstoleranz sinkt, man wird depressiv, weil zwangsläufig nicht alle Erwartungen erfüllt werden können.“ Die Zahl von Scheichs Patienten, die in den vergangenen Jahren auf Grund übertrieben positiver Denkdogmen zu ihm kamen, sei sprunghaft gestiegen. „Der Druck, dazu gehören zu wollen zu der Gruppe der immer Erfolgreichen und immer Gutgelaunten, wächst ständig.“
Smile or Die
Scheich wird zu einem Vertreter der „Anti-alles-wird-gut-Bewegung. Und dabei ist er nicht allein. Barbara Ehrenreich ergänzt die in Deutschland begonnene Kritik am positiven Denken aus amerikanischer Sicht mit ihrem Buch „Smile or Die“ (Smile or Die: How Positive Thinking Fooled America and the World, 2010). Darin prangert sie die Irrationalität der „neuen Heilslehre“ des positiven Denkens an und zeigt die weit verbreitete Anwendung des positiven Denkens im Alltagsleben, im Gesundheitswesen, in Unternehmen und in der Finanzbranche auf und kritisiert. Bekannte Vertreter des positiven Denkens behaupten nach ihrer Ansicht ungeniert „wer arm sei, habe Armutsbewusstsein ausgesandt, verdiene keinen Wohlstand. Niemand falle wirtschaftlichen oder sozialen Missständen zum Opfer ohne selbst entsprechend negative Energie ausgesandt zu haben….“. Im Buch „The Secret“ werde Erfolg versprochen, wenn man nur jetzt schon so handle, als sei man erfolgreich und nur fest an den Erfolg glaube.
Christian Girschner vertritt in seinem Bericht über das Buch von Barbara Ehrenreich: „In Zeiten der zunehmenden sozialen Unsicherheit, des Sozialabbaus, der wachsenden sozialen Polarisierung, Verarmung, Arbeitslosigkeit und der Prekarisierung der Arbeits- und Lebensbereiche wachse das Bedürfnis nach schnellen, unpolitischen Lösungen, die einem im Leben helfen, mit den neuen Unwägbarkeiten, Unsicherheiten, Ängsten, gestiegenen Anforderungen und sozialen Verwerfungen bzw. Brüchen zurechtzukommen. Das positive Denken wird schließlich als eine vermeintliche Universalmethode zur Lösung seelischer und sozialer Probleme und körperlicher Erkrankungen angepriesen, mehr noch, es soll zu einem andauernden Glück und Reichtum führen.“(https://kritischepolitik.files.wordpress.com/2012/11/positives_denken.pdf)
Girschner führt aus, dass Barbara Ehrenreich in ihrem Buch festhält: „Das positive Denken „eignet“ sich gut als Rechtfertigung für die brutalen Züge der Marktwirtschaft. Wenn der Schlüssel zu wirtschaftlichem Erfolg Optimismus ist, wenn man sich eine optimistische Haltung durch die Methode des positiven Denkens aneignen kann, gibt es fürs Scheitern keine Entschuldigung mehr. Die Kehrseite der Positivität ist daher ein hartnäckiges Insistieren auf der persönlichen Verantwortung: Wenn dein Geschäft zusammenbricht oder deine Stelle wegrationalisiert wird, muss es daran liegen, dass du dich nicht genügend angestrengt, dass du nicht fest genug an deinen unausweichlichen Erfolg geglaubt hast.“
Weiters berichtet Girschner über Erich Fromm´s Ansichten: Aufgabe des Individuums in der kapitalistischen Ökonomie und Gesellschaft sei es nun, sich im Konkurrenzkampf gewinnbringend zu bewähren. Erfolg und Niederlage entscheiden, ob die Bemühungen, Motivation, Wille richtig oder verkehrt waren. Nach einem Misserfolg ist das Individuum gezwungen kritische Bilanz zu ziehen um daraus entsprechende Einstellungs- und Verhaltensveränderungen für die Zukunft zu ziehen. Nach Fromms Ansicht ist Körper, Geist und Seele das Kapital des Individuums und die Lebensaufgabe bestehe darin, diese vorteilhaft zu investieren, einen Profit aus sich zu ziehen. Menschliche Eigenschaften wie Freundlichkeit, Höflichkeit, Güte würden zu Gebrauchswaren, zu Aktivposten des „Persönlichkeitspakets“, die zu einem höheren Preis auf dem Personalmarkt verhelfen. Gelinge es jemand nicht, sich gewinnbringend zu investieren, so habe er das Gefühl, dass er ein Versager sei. Ist er erfolgreich, so ist es sein Erfolg.
An dieser Stelle setze das positive Denken den Hebel an, in dem es dem Verlierer oder Verliererin laut Girschner verspreche, die richtige Methode für den ausbleibenden Erfolg zu besitzen. Statt an sich zu zweifeln, an entsprechenden Minderwertigkeits- und Ohnmachtsgefühlen usw. zu leiden verspreche das positive Denken den Verlierern ein glückliches, erfolgreiches Leben, wenn die Methoden des positiven Denkens übernommen und praktiziert werden.
Die Folge sei, dass die positiv Denkenden die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht mehr hinterfragen würden, sondern als Begebenheiten voraussetzen, denen man sich nur optimistisch zu unterwerfen und erfolgreich zu bewähren habe in dem man das positive Denken unbeirrt praktiziere. Wenn der Erfolg ausbleibe, dann müsse die Dosis des positiven Denkens weiter erhöht werden. Girschner meint, dass sich dadurch positives Denken gegen jegliche Kritik immunisiert habe.
Glückspropheten
Ein weiterer interessanter Artikel findet sich hier: Die Diktatur der Optimisten, Christian Schüle – ZeitOnline, Wirtschaft Dossier http://www.zeit.de/2001/25/200125_glueckspropheten.xml
Es möge sich jeder seine eigene Meinung bilden. Jedenfalls macht die Kritik deutlich, dass es Grenzen der „gute Laune“-Gesellschaft gibt. Diese zu kennen, sich damit auseinanderzusetzten und zu berücksichtigen ist meines Erachtens essentiell für jeden einzelnen.